Hier im Osten sind Flüchtlinge sehr willkommen
Die WELT vom 12.1.2016
Ostdeutschland gilt nicht unbedingt als Hochburg der Willkommenskultur. Doch die Gemeinde Wandlitz in Brandenburg wird plötzlich zum leuchtenden Beispiel für Integration. Wie schaffen die das? Von Antje Hildebrandt
Mathis Oberhof (M.) ließ schon vor drei Jahren "Willkommen" auf Transparente drucken. Heute ist er Autor eines Buches, das die überraschende Geschichte von Wandlitz und den Flüchtlingen erzählt.
Es ist nur ein Wort. Eine Bitte, ein Appell. Es steht in Regenbogenfarben auf den Aufklebern, die überall im brandenburgischen Wandlitz ausliegen. Man findet es aber auch auf der Fahne vor jenem Haus, in dem im Januar 2013 alles begann, in einem Flüchtlingsheim. „Willkommen“.
Heute hängt die Fahne schlaff an ihrem Mast. Man hätte sie gar nicht bemerkt, wenn Mathis Oberhof nicht extra darauf hingewiesen hätte. Oberhof ist ein Alt-68er, der die Begeisterungsfähigkeit eines Berufsjugendlichen mit der Energie eines Duracell-Hasen verbindet. Er hat dieses „Willkommen“ schon vor drei Jahren auf riesige Transparente drucken lassen.
So kann man es nachlesen in seinem Buch. Es heißt „Refugees Welcome“, und es erzählt davon, wie aus Wandlitz, dieser 22.000 Einwohner zählenden Gemeinde vor den Toren Berlins, ein Ort wurde, den Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) heute als leuchtendes Beispiel für Integration empfiehlt. Es ist in demselben Ton geschrieben, in dem Oberhof redet: Ich-muss-nur-noch-eben-schnell-die-Welt-retten. Wer Brandenburg nicht kennt, könnte auf die Idee kommen, die Willkommenskultur sei hier gewissermaßen erfunden worden. Dabei erzählt die Statistik eine andere Geschichte.
NPD konnte in Wandlitz an Stimmen zulegen
Nach der Statistik gab es allein 2015, in den ersten neun Monaten des Jahres, 77 Übergriffe von Rechtsextremen auf Heime und Flüchtlinge, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Tendenz: steigend.
Was also hat Wandlitz anders gemacht als andere Gemeinden? Jener Ort mit vielen Seen, viel Grün und einem Hauch von Braun. Bei der vergangenen Bundestagswahl konnte die NPD hier leicht zulegen. Sie kam auf 290 Stimmen (2,6 Prozent).
Ortstermin in Wandlitz. Als Treffpunkt hat Mathis Oberhof das Flüchtlingsheim vorgeschlagen, einen dreistöckigen Plattenbau, der nur einen Steinwurf weit vom Bahnhof entfernt liegt. Außen Tristesse, innen sonnengelb gestrichene Flure und zwei Fernseher in der Lobby, die beide gleichzeitig laufen. Das pralle Leben.
Muna nutzt ihre Pause, um ein bisschen RTL zu gucken. Sie ist 21, ihr hübsches Gesicht verschwindet unter einem Schleier, und fragt man die dunkelhäutige Muslimin aus Eritrea, wie sie sich hier eingelebt habe, unter einem Dach mit 160 Flüchtlingen aus aller Welt, dann lächelt sie einen nachsichtig an.
Sie sagt, sie habe gar keine Zeit, über solche Fragen nachzudenken, so eng sei ihr Tag getaktet. Deutschkurse, Fußballtraining mit den Jungs, ein Praktikum als Sozialhelferin in der Brandenburg-Klinik. Man merkt: Oberhof & Co. haben an alles gedacht, sogar an Jobs.
Muna aus Eritrea will Krankenschwester werden
Die Brandenburg-Klinik ist die größte Arbeitgeber am Ort. Man findet sie hinter einer grünen Mauer in der ehemaligen Waldsiedlung, dort, wo sich zu DDR-Zeiten Erich Honecker und die Genossen aus dem Politbüro in ihren Villen abschotteten. Muna sagt, eines Tages wolle sie dort als Krankenschwester arbeiten. Das sei ihr Traum.
Oberhof schmunzelt. Ein toughes Mädchen, diese Muna, wird er später sagen. Mutig, unerschrocken, selbstbewusst. Eigenschaften, die nicht schaden können, wenn man in Brandenburg landet.
Doch Wandlitz ist eben nicht Brandenburg, das versichern einem auch andere Flüchtlinge. Walid ist so einer, ein 21-jähriger Kurde aus Syrien. Er kam aus Hamburg. Er sagt, er habe gedacht, er lande hier am anderen Ende der Welt.
Doch schon bei seiner Ankunft in der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt hätten ihm andere Flüchtlinge gesagt: „Glück gehabt. Du kommst nach Wandlitz.“ Walid grinst. Er sagt, bislang habe er tatsächlich nur nette Menschen getroffen. „Erst gestern hat mir einer im Lidl seinen Pfandbon geschenkt." Daran muss man denken, wenn man sich jetzt in dem Heim umsieht.
Nach dem Vorruhestand wieder eine Aufgabe
Die Tür des Heimes steht Tag und Nacht offen. Keine Security wacht darüber, wer ein- und ausgeht. Wer Oberhofs Buch gelesen hat, registriert es mit Verwunderung. Darin steht nämlich, dass Ende 2012 beinahe die gesamte Gemeindevertretung gegen das Heim gewesen sei. Und dass sich merkwürdige Szenarien abspielten, als das Heim seine Türen vor der Ankunft der Flüchtlinge für die Öffentlichkeit öffnete.
Es gab Besucher, die das Gebäude bis in den letzten Winkel fotografierten, sogar die Tafeln mit den Fluchtplänen. Von der Polizei erfuhr Mathis Oberhof später, dass unter ihnen NPD-Mitglieder gewesen waren. Er sagt heute: "Unsere schlimmste Sorge war, dass sich die NPD mit der bürgerlichen Mitte verbündete."
Um das zu verhindern, gründete er mit anderen Wandlitzern einen Runden Tisch. Kirche, Gemeindeverwaltung, Bürger, er holte alle mit ins Boot. Die Nachrichten des Runden Tisches konnte man auf der Homepage der Gemeinde nachlesen und auch Oberhofs private Telefon-Nummer. Vielleicht war das ein wenig leichtsinnig, aber Oberhof sagt, Transparenz sei nun mal einer der Schlüssel zum Erfolg des Runden Tisches gewesen.
Sein Telefon klingelte jetzt Tag und Nacht, ständig riefen Spender an. Für Oberhof war das eine gute Gelegenheit, nachzuhaken. Er hatte Jahre lang im Beschwerdemanagement einer Versicherung gearbeitet, bevor ihn sein Arbeitgeber in den Vorruhestand schickte.
Seine Gabe, Menschen für sich zu gewinnen, kam ihm jetzt zugute. Früher hatte er Kunden ausgeredet, Verträge zu kündigen. Jetzt galt es, Ehrenamtliche zu werben und ihnen das Gefühl zu vermitteln, ohne sie gehe es nicht. Er sagt: "Ich hatte nach zwanzig Jahren zum ersten Mal das Gefühl, wieder etwas Sinnvolles zu tun."
Deutschlehrer für 80 Prozent Analphabeten in ihrer Muttersprache
Dabei musste Oberhof in Wandlitz gar nicht so viel Überzeugungsarbeit leisten. Das ahnt man, wenn man mit Micha Göbel, 57, spricht. Er kommt gerade als Deutschlehrer ins Heim. Und fragt man ihn, warum er sich diese Aufgabe aufgebürdet hat, Menschen zu unterrichten, von denen er sagt, 80 Prozent Analphabeten in ihrer Muttersprache, sagt er, was viele Helfer sagen: "Einer muss es doch tun. Wer, wenn nicht wir?"
Dieser Satz ist inzwischen common sense im Ort. Ausdruck eines Wir-Gefühls, das alle Ehrenamtlichen trägt und das sich auch auf den Ort übertragen hat. Seine erste Bewährungsprobe hat der Runde Tisch schon 2013 bestanden. Am Pfingstsonnabend hatte die NPD zur Demo gegen das Flüchtlingsheim aufgerufen. Es kamen: ein paar Aktivisten aus dem benachbarten Bernau.
Ihnen gegenüber standen Menschen, die Oberhof, der Vater dreier erwachsener Söhne, bisher noch nicht bei Treffen des Runden Tisches gesehen hatte. Singend bildeten sie eine Kette um den Plattenbau. Seither ist Ruhe in den Ort eingekehrt.
Aus dem Appell "Willkommen" ist ein Bekenntnis geworden. "Bis heute hat es nicht eine einzige Strafanzeige gegen einen Flüchtling gegeben. Nur eine Verwarnung wegen Fahrradfahrens auf dem Fußweg", sagt Oberhof.
Später Triumph für einen, der als drittes Kind von Flüchtlingen groß geworden ist. Seine Mutter war 28, als sie sich alleine aus Ostpreußen nach Bayern durchschlagen musste, der Vater war als Soldat an der Front. Der Krieg hatte sie heimatlos gemacht. Ein Schicksal, das die Familie mit 14 Millionen Menschen teilte. Oder nein, ein Stigma. Flüchtlinge waren nicht wohl gelitten. Es hieß, sie nähmen den Einheimischen die Wohnungen weg. Oberhof sagt, seine Mutter habe ihm eingeschärft, nicht über seine Herkunft zu reden.
Buch mit Glossar von A wie Abschiebung bis Z wie Zwangsheirat
Er steigt jetzt in seinen Touran und fährt durch Wandlitz nach Hause. Es ist eine Datsche in einem Wald, er und Margot, seine zweite Frau, haben sie sich in liebevoller Kleinarbeit aufgemöbelt. Ein Wohnmobil parkt vor dem Grundstück. Er sagt, damit wollen sie zu zweit die Welt erkunden, wenn Margot in den Ruhestand geht. Doch das glaubt man erst, wenn er sich hinter das Steuer klemmt.
Zwar hat er die Leitung des Runden Tisches nach einem Jahr in jüngere Hände abgegeben. Ein Fulltime-Job, der auf die Knochen ging, wie er sagt. Ein Freund riet ihm, ein Buch darüber zu schreiben. Sein Terminkalender wurde davon nicht leerer.
Er war schon fast fertig, als plötzlich immer mehr Züge mit Flüchtlingen ankamen. Der Goldmann-Verlag beschloss, das Buch um einen Ratgeberteil zu ergänzen mit Adressverzeichnis und Glossar, von A wie Abschiebung bis Z wie Zwangsheirat.
Seither steht sein Telefon wieder nicht still. Kommunen in ganz Deutschland haben ihn schon eingeladen. Er ist jetzt gefragt, als Autor und Referent. Oberhof genießt den Rummel. Er sagt, es sei doch schön, dass so auch der Rest der Welt erfahre, dass Wandlitz viel mehr sei als der Ort, an dem der olle Erich wohnte.
Mathis Oberhof, Refugees Welcome! Die Geschichte einer gelungenen Integration, Goldmann, 256 Seiten, 8,99 Euro, erscheint am 15.02.2016 als Taschenbuch.